"... Noch einmal wiederhole ich, dass ich keine Kommunikation mit Dir möchte und auch auf nichts mehr reagieren werde." Und dann hat sie mit ihrem nom de guerre unterschrieben. Aufgefallen ist mir auch, dass sie im Gegensatz zu früher "Du" jetzt groß schrieb.
Das Antidepressivum wirkt, die schwarze, tiefe Leere, die sich mir schon seit Langem auftut ist nicht mehr so schmerzhaft, außerdem müssen die fast vier Wochen stationärer Behandlung ja auch irgendetwas bewirkt haben.
Klar könnte man sich einen Menschen abgewöhnen wie den Alkohol, hat auch die Psychologin vorgeschlagen, das Erste, was sie zu ihr meinte, war, "she took advantage on you" und außerdem, dass sie es nicht wert wäre, wegen ihr zu sterben.
Wie in der Klinik hatte ich auch heute einen Spaziergang unternommen, mit den Kopfhörern im Ohr und mich kaum darum geschert, was die Passanten von mir denken. Immerhin habe ich ihr diesmal keinen Brief geschrieben, ein Fortschritt auf jeden Fall, obwohl es wenig zu sagen gibt, wäre mir aber sicherlich viel eingefallen.
Der Brief. Der Oberarzt hatte ja vorgeschlagen, dass ich ihn nicht abschicke und hat gemeint, dass alleine das Schreiben ja therapeutisch wäre; ich erklärte ihm aber genau, dass ich ihn ja mit dem Plan geschrieben habe, ihn ihr zu schicken, was ich ja auch einige Tage später gemacht habe.
Sie ist genau das Gegenteil von mir, habe ich der Psychologin gesagt, die das Gespräch schon bald beenden wollte, der Samstagabend ist für sie der Höhepunkt der Woche, während ich am Tiefpunkt bin. (Schon seit Tagen male ich mir aus, was sie jetzt macht.)
Gestern bin ich zum See gegangen, habe mich unwohl gefühlt, bei dem schönen Wetter waren zu viele zu laute Jugendliche am Wasser, meine alte Jeans rutschte, wohl weil ich Muskelmasse abgebaut habe und schon sehr bald musste ich dringend "pissen", wie man hier sagt. Ach ja, und das viele alkoholfreie Bier schmeckt zwar, bekommt mir aber nicht und wird durch den Tee ersetzt.
Bei Tageslicht schaut ja alles anders aus. Und spazieren gehen durfte ich im Park des Krankenhauses, immer im Kreis die Außenmauern entlang, vorbei an den Grabsteinen der Nonnen, die diesseits der Friedhofsmauern liegen. Zu essen gab es fast immer das Gleiche, am Anfang schmeckte es nicht, aber bald schon stellten wir uns brav zur Essensabgabe an, es kommt ja immer darauf an, was man aus dem macht, das man vorfindet.
Es war der kälteste Mai, den man sich vorstellen kann. Ob ich den ersten jemals vergessen kann? Die Demonstrationen, die uns zu absurden Umwegen zwangen? Wie unwohl sie sich neben mir im Auto gefühlt hatte und wie sie mir wieder und wieder anbot, mit den Öffentlichen zu fahren? Schließlich meinte sie, sie müsse noch einkaufen und dass ich sie hier aussteigen lassen kann. Vor dem schäbigen Bahnhofssupermarkt? Wie ich einen Monat später wieder dort war und mir einen Kaffee zum Mitnehmen gekauft habe, der Verkäuferin Trinkgeld gegeben habe und mit Sandalen bekleidet war? Viele Leute waren auf der Straße, es war Samstag Abend und wieder schönes Wetter. Nein, Sandalen hatte ich damals keine angehabt, das war eine Woche später, jedenfalls marschierte ich Richtung Süden, zu ihr. Doch, jetzt weiß ich es genau, es war der zweite Samstag und ich hatte doch Sandalen an, trotzdem mich die Blasen schmerzten ging ich langsam die Joachimsthaler Straße hinunter.
Selbstverständlich war sie nicht zuhause, ich hatte zu ihrer Wohnung hochgeschaut, vom Innenhof aus, zu dem ich mir Zugang verschafft hatte, in der Nacht. Niemanden hatte ich gestört, beschäftigt war jeder an diesem lauen Abend, auch der Obdachlose vor dem Abgang zur U-Bahn. An das Geländer gelehnt hatte er rauchend mit sich selbst gesprochen, während ich mich zwei Meter weiter an eine Halterung für Fahrräder lehnte und auf sie wartete, sie kam aber nicht, es war ja Samstag Nacht und sie wohl nicht in der Stadt. Die Blasen schmerzten, als ich mich dann endlich in Bewegung setzte, Richtung nachhause. Die Wohnung muss ideal sein, denke ich mir, vierter Stock, und muss sie wohl eine Stange Geld kosten, zentrale Lage.
Vor dreißig Jahren bin ich einmal bei einer Freundin gesessen und sie hatte mich aufgefordert, auf einem Bogen Papier irgendetwas zu zeichnen, damit sie etwas daraus machen kann. Ich zeichnete einen Kreis und sie meinte, dass das zu leicht wäre.
Dass ich viele Jahrzehnte ohne sie gelebt habe, hat sie geschrieben, als in der Klinik das Telefon läutete und ich dann nach Tagen die pdf-file geöffnet hatte.
So viele Gastgärten sind vor ihrem Haus, die Leute wollten noch nicht weg und blieben wegen der warmen Nacht noch lange sitzen und unterhielten sich, die Kellner eilten hin und her.
Sonntag Abend gab es in der Kapelle immer einen Gottesdienst, ich gehörte aber zu den Leuten, die nie dort waren. An einem der ersten Tagen wollte ich dort eine Kerze anzünden, doch sie war verschlossen gewesen. Den Wachmann hatte ich gefragt, wo der Eingang zu dieser Kirche wäre und als er mir dann wieder begegnete, hatte er mich gefragt, ob ich es gefunden hätte und ich habe berichtet, dass sie zugesperrt war, nur ein kleiner Vorraum wäre zugänglich gewesen, in dem ich mich auch ein paar Minuten gesetzt hatte. Kerzen waren dort keine, ihr Liebhaber hatte also noch einmal Glück gehabt.
Oder einer ihrer Liebhaber.
Gedichte von Baudelaire hatte ich auswendig gelernt auf meinen Gängen, von Schwertern und Giften, die er um Hilfe angefleht hatte in seiner Not, aber umsonst.
Tischtennis hatten sie oft gespielt im Spital, ich war nie dabei gewesen, hatte sehr gerne Tee getrunken im Gemeinschaftsraum. Oder fern gesehen mit anderen Patienten. Einen Film über eine Prostituierte mit einem jungen Harald Juhnke in einer Nebenrolle. Ausschlag hatte ich im Gesicht bekommen und Morgensport war jeden Wochentag verpflichtend. Manchmal grüßte mich ein Verrückter dann, den ich in den ersten Tagen in der geschlossenen Abteilung kennengelernt hatte. Die Ladekabel für das Mobiltelefon hatten sie mir abgenommen die ersten Tage, später bekam ich die aber wieder zurück und in der Nacht wurden die Zimmer alle paar Stunden kontrolliert. Man sollte sich dann bemerkbar machen, wenn man nicht schlief, wurde uns gesagt, Maskenpflicht überall, auch im Garten.
Sie lasse sich die Bürde für mein Leben nicht aufladen, hatte sie geschrieben, für mein Leben bin einzig und alleine ich verantwortlich. Als das Telefon läutete, dachte ich, dass es jetzt soweit sei und sie wirklich unfreundlich würde, aber es läutete nur ein Mal, also war eine Nachricht gekommen, die ich aber nicht öffnen wollte, weil ich eine Einstweilige Verfügung von der Polizei erwartete, was sich später aber als falsch erwies. Nachgelesen hatte ich, was für Schritte sie dafür hätte unternehmen müssen und mir war nach zwei Tagen klar geworden, dass sie dafür hätte unangenehme Fragen beantworten müssen.
Auf dem Bett bin ich gelegen und habe gelesen, als das Telefon läutete, alleine im Zimmer. Einen Kameraden hatte ich dort gebeten, ob er mir ein Couvert geben könne, weil ich gesehen habe, dass er einen Brief schrieb, aber er hatte keines mehr. Am nächsten Tag hat er mir dann drei gegeben und zwei Briefmarken. Die ich alle verbraucht habe.
Mit einer Prostituierten bin ich auf meinem Bett gelegen und sie hat sich meine Geschichte angehört. Damals war das Wetter wieder sommerlich geworden und sie hatte anfänglich wegen der Hitze geflucht und weil sie so lange keinen Parkplatz gefunden hat. Es sind die Schrebergärtner, habe ich ihr erklärt, bei schönem Wetter kommen sie immer alle mit ihren Autos. Dass das doch keinen Sinn mache, wenn sie nicht mit mir zusammen sein will, und ich habe ihr Recht gegeben.
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